Von Pudelwohl am
7. März 2012 veröffentlicht
Der Weg schien kein Ende zu nehmen und Kathrin wurde immer gereizter. Noch nie war ihr eine Wanderung auf dem Rheinsteig so lang erschienen. Normalerweise bot der 320 km lange Wanderweg zwischen Wiesbaden und Bonn durch schöne Landschaften und Aussichtspunkte zuviel Abwechslung um bei einer leidenschaftlichen Wanderin, wie sie es war, Langeweile aufkommen zu lassen. Es war ihr Ehemann, der ihr den Weg in doppeltem Sinne verlängerte. Peter, der ohnehin nicht mit ihrem Tempo mithalten konnte, lief seit der Mittagspause noch langsamer und schwitzte und ächzte noch mehr. Warum hatte er auch fast zwei Liter Bier in sich hineingießen müssen? Und dazu noch das fettige Essen …
Am Schlimmsten aber war, dass selbst die offensichtliche Erschöpfung ihn keineswegs davon abhielt, ununterbrochen zu reden. Wenn er sich nicht gerade über die Anstrengung beklagte, sprach er über nichts anderes als seine Arbeit und das auf so quälend langweilige und umständliche Weise, dass es Kathrin nicht nur schwer fiel, ihm zuzuhören, sondern sie auch immer wütender machte. Alles an ihm regte sie auf, seine Sprache, seine Gestik und sogar sie Art, wie er sich gerade die verschwitzte Stirn wischte. Kathrin konnte sich nicht mehr erinnern, wann sie angefangen hatte, sich vor ihrem Mann zu ekeln. Besonders seine Passivität regte sie auf. In den fünf Jahren ihrer Ehe hatte sie sich oft gefragt, was sie am Anfang an ihm gefunden hatte und war selten zu einer Antwort gelangt. War es am Ende doch nur das Geld gewesen? Damals hatte sie es sich wohl nicht eingestehen wollen.
Was sie noch mehr gegen ihn aufbrachte, war dass ihn ihre offenkundige Abneigung nicht einmal zu stören schien. Selbst darüber, dass sie seit mehr als einem Jahr nicht miteinander geschlafen hatten, hatte er sich nie beklagt. Das war typisch für ihn! Zuhause wollte er nur in Ruhe vor dem Fernseher sitzen. Wenn man ihm dann einmal seine Gesellschaft aufnötigte, bequatschte er einen mit dem größten Unsinn.
“Im Büro verfolge ich schon fleißig die Zeitarbeitsfirmen im Internet. Jobs Düsseldorf gibt es doch genug! Vielleicht finde ich bald eine neue Anstellung. Dann bin ich endlich weg von dem Drecksladen!”, erzählte er gerade.
„Das ist ja nicht auszuhalten! Er verdient doch gut. Die Kollegen sind alle sehr nett. Er ist doch das eigentliche Problem!“ dachte Kathrin. Wie konnte ein Mensch so sprechen?
Endlich kamen sie an die Stelle. Vor kurzem hatten sie, nachdem sie die letzte kleine Ortschaft passiert hatten, einen Wald betreten.
„Zweihundert Meter weiter“, hatte die Dame, mit der sie sich bei ihrer letzten Rheinsteig-Tour zufällig unterhalten hatte, gesagt, „verlassen sie den Weg und laufen ein Stück durch den Wald und dann über eine Wiese.“
„Wir sollen durch den Wald laufen?“, fragte Peter genervt.
Kathrin zwang sich ein Lächeln auf und antwortete: „Dafür werden wir mit dem schönsten Ausblick über das ganze Rheintal belohnt.“
Als sie den kurzen Waldabschnitt passiert hatten, traten sie auf die Wiese hinaus und Kathrin sah sofort, dass sie sich auf dem Hügelkamm befanden. Ein paar Meter weiter sah sie den Felsen, der sich wie eine Hundeschnauze in das Tal hineinstreckte. Der Anblick von hier oben war wirklich atemberaubend. Gerade ging die Sonne unter und tauchte den Rhein, der sich in Kurven durch das Tal schlängelte, in ein rotgoldenes Licht.
Im Gegensatz zu den Aussichtspunkten, die direkt am Rheinsteig lagen, wie zum Beispiel dem berühmten Loreleyfelsen, war diese Stelle nicht durch einen Zaun oder ein Gitter gesichert.
Kein Mensch käme hierher, hatte ihr die Frau vorgeschwärmt; wenn man dorthin ginge, habe man auf jeden Fall seine Ruhe, selbst wenn der Wanderweg am Wochenende völlig überlaufen sei.
Kathrin war sofort von diesem Geheimtipp begeistert gewesen und nach längerem Nachdenken, war ihr noch eine ganz andere Idee gekommen.
„Lass uns wieder gehen“, motzte Peter hinter ihr. „Es wird schon dunkel und wir müssen doch die Bahn erwischen. Bis zur nächsten Stadt ist es sicher noch eine gute Stunde.“
„Komm doch hierher, Schatz“, sagte Kathrin in der süßesten Stimme, die sie zustande brachte und trat auf den Felsen hinaus. Unter ihr ging es steil nach unten. Sie trat einen Schritt zurück und Peter trat an den Rand.
„Siehst Du das da unten?“, fragte sie.
„Was denn?“
Peter trat noch einen weiteren Schritt an den Rand des Felsens heran, und beugte sich hinunter zu der Stelle, auf die ihr Finger zeigte.
Mehr war nicht nötig gewesen! Kathrin holte aus und versetzte ihm mit beiden Handflächen einen kräftigen Stoß in den Rücken. Beide gerieten ins Taumeln, doch bei Kathrin war es nur ein kurzer Moment. Peter hingegen hatte keine Chance, sein Gleichgewicht zu halten und stürzte kopfüber in den Abgrund. Er hatte nicht einmal Zeit, einen Schrei auszustoßen.
Kathrin hatte diesen Moment lange herbeigesehnt, den Moment ihrer Befreiung. Jetzt war sie aber wie paralysiert. Mit einem Mal wurde ihr die Tragweite ihrer Handlung bewusst. Was hatte sie getan? Sie hatte ein Menschenleben ausgelöscht. Und warum? Weil er unaufmerksam war, passiv und langweilig? Er hatte sie nie betrogen oder geschlagen. Eigentlich hatte er überhaupt nie etwas Schlimmes getan. Und war sie überhaupt besser gewesen? Sie mit ihrer ganzen Aggression und sinnloser Wut? Sie war doch das Problem gewesen und nicht er.
Diese Gedanken stürmten alle gleichzeitig auf sie ein und ein Schrei entrang sich ihrer Brust: „Peter!“
„Hier…“, klang plötzlich eine schwache Stimme aus dem Abgrund.
Erschrocken rannte Kathrin zu der Klippe, ging in die Knie und sah hinab. Dort saß Peter, etwa drei Meter unter ihr auf einem Felsvorsprung. Er blutete aus einer Platzwunde am Kopf, schien aber ansonsten unverletzt zu sein.
„Was ist passiert?“, fragte er mit zitternder Stimme. „Mein Kopf tut weh. Wie komme ich hierher?“
„Er lebt!“ jubelte Kathrin innerlich. „Und er erinnert sich nicht! Jetzt wird alles gut!“
„Du bist gestürzt.“, sagte sie laut. „Wie geht es dir?“
Peters Jammerattitüde war mit einem Mal verschwunden.
„Geht schon“, antwortete er. „Warte, ich komm hoch.“
Der träge unsportliche Peter kletterte plötzlich mit ungeahnter Behändigkeit den Felsen hoch, fand halt an einem kleinen Vorsprung und einer Wurzel und wenige Sekunden später konnte Kathrin oben seine Hand fassen und ihn hochziehen.
Hysterisch weinend fiel sie ihm in die Arme. „Ich hatte solche Angst um dich! Ich liebe dich!“ schrie sie unter Tränen. Sie hatte eine zweite Chance erhalten. Gott hatte ihr vergeben. Nie wieder würde sie sich über ihren Mann beklagen. Und wenn er auch ein bisschen langweilig war, was machte das schon? Es gab wirklich Schlimmeres. Vor allem würde sie sich nicht mehr über ihn aufregen.
Peter schien seltsam ungerührt als er sie eine Weile wortlos im Arm hielt. „Schon gut, schon gut.“ murmelte er dann. „Beruhige dich. Lass uns jetzt gehen.“
Kathrin erhob sich langsam. In diesem Moment traf sie ein Stoß, der ungleich härter war als der, den sie zuvor Peter versetzt hatte. Dieser Stoß war besser gezielt, so dass sie an dem Vorsprung vorbei unaufhaltsam in die Tiefe stürzte. Für einen letzten Gedanken blieb ihr kaum Zeit. Alles, was sie kurz vor dem tödlichen Aufschlag empfand war ein einziges großes Unverständnis.
„Schlampe“, murmelte Peter, als er den Weg zurücklief und sich auf einen entspannten Abend vor dem Fernseher freute.
Von darkfantasy am
3. Juli 2009 veröffentlicht
Mittler zwischen den Welten
Kapitel (4) aus “Lebensadern”, dem ersten Band der Jason Dawn Saga von Carola Kickers
Rita Hold tappte in Pantoffeln und Nachthemd in die Küche. Es war kurz nach ein Uhr morgens, und sie konnte nicht schlafen. Zeit für einen Mitternachtssnack. Ohne das Licht anzumachen nahm sie ein Glas von der Anrichte und öffnete den Kühlschrank. Sekunden später zerbrach das Glas auf den Fliesen. Das Licht des Kühlschrankes hatte für einen kurzen Moment die dunkle Gestalt am Küchentisch beleuchtet. Rita erschrak bis ins Mark und ließ das Glas fallen. Hastig griff sie an den Lichtschalter.
„Jason!“, rief sie erstaunt aus. „Was, zum Teufel, machen Sie mitten in der Nacht in meiner Küche?“ Ärger löste den Schrecken ab.
Der junge Mann in schwarzer Kleidung hob lässig die Hand zu einem Gruß. „Hallo, Rita. Ich nehme nicht an, dass Sie mir etwas zu trinken anbieten wollen?“ In seiner Stimme mischten sich Spott und Überheblichkeit. Dabei grinste er ob der Zweideutigkeit seiner Worte. Die junge Frau wusste schließlich, dass er ein Wesen aus einer anderen Welt war, ein Vampir.
„Was soll das?“, fragte Rita, ohne auf seine Provokation einzugehen. Innerlich machte sie sich Gedanken über ihr Aussehen und knöpfte schnell ihr Nachthemd zu.
Jason Dawn, den sie als ehemaligen Sänger der englischen Rockband „The Damned“ vor einigen Wochen kennen gelernt, und der ihr seine wahre Identität verraten hatte, lächelte sie unverschämt an. Zu der Zeit hatte er nur Englisch mit ihr gesprochen, nun sprach er Deutsch mit einem leichten Akzent.
„Keine Sorge, Sie sehen bezaubernd aus.“
Warum konnten diese Wesen bloß Gedanken lesen? Rita schwankte zwischen Verlegenheit und Ärger, als Jasons nächste Worte sie aufhorchen ließen.
„Ich habe über Ihren Vorschlag von damals nachgedacht“, begann er vorsichtig. „Ich wäre eventuell bereit, Sie in gewisser Weise zu unterstützen, wenn Sie dafür – sagen wir mal – mein Dasein etwas erleichtern würden.“
„Und wie stellen Sie sich das vor? Wollen Sie etwa ein Abo für die Blutbank?“, fragte Rita zynisch.
„Nicht doch, dieses Blut wäre tote Energie. Ich bevorzuge, genau wie Sie, warme Mahlzeiten.“
Jason grinste wieder, als Rita erschauerte.
„Und was würden Sie dafür tun?“, fragte sie misstrauisch.
„Ich verrate Ihnen ein paar kleine Geheimnisse unserer Rasse, die Sie sicher interessieren dürften!“
Der junge Mann mit den schönen dunklen Augen und den sanften Gesichtszügen wusste genau, dass er in der stärkeren Position war und ließ Rita seine Überlegenheit spüren.
„Ich muss erst mit Kommissar Welsch darüber sprechen“, meinte diese nur. Sie hatte ihre Fassung kurz wieder gefunden.
„Natürlich. Ich bin sicher, wir sehen uns bald wieder.“ Mit diesen Worten stand Jason vom Küchentisch auf und ging auf die hübsche Polizeibeamtin zu, die instinktiv zum Türrahmen zurückwich. „Ich weiß nur nicht, was Ihnen lieber wäre, bei Tag oder bei Nacht.“
Diese Frechheit in seinen Worten traf ins Schwarze, denn er wusste, dass Rita eine unerklärliche Zuneigung für ihn empfand.
Mit einem leisen Lachen ging er an der sprachlosen Beamtin vorbei ins Wohnzimmer, öffnete das Fenster und sprang auf das Fenstersims.
„Um Gottes Willen“, rief Rita aus. „Wir sind hier im dritten Stock!“
Jason winkte ihr zu wie ein kleiner Junge, der einen Streich ausheckte.
Mit Schwung stieß er sich von der Fensterbrüstung ab und verschwand als dunkler Schemen in der Nacht, noch bevor Rita das Fenster erreichte.
‚Komisch’, dachte sie dabei nur. ‚Und ich hab immer geglaubt, die würden sich in Fledermäuse verwandeln.’ Dann schloss sie das Fenster wieder und ging ins Bett, wohl wissend, dass sie heute Nacht doch keinen Schlaf mehr bekommen würde.
* * *
In der Piano Bar im Hotel Hafen Hamburg war nicht viel los. Kommissar Welsch, seine Assistentin Rita Hold und Jason Dawn saßen etwas abseits an einem der kleinen, runden Tische.
Jasons Vorschlag stieß bei Harald Welsch zunächst auf Ablehnung, ja Empörung.
„Sie wollen von uns Namen von Verbrechern, die schuldig sind, aber nicht verurteilt werden konnten? Hab ich Sie da richtig verstanden?“ Der Kommissar schüttelte verständnislos den Kopf. „Das ist unmöglich!“
Jason sah ihn mit einem prüfenden Blick an. „Denken Sie? In den Staaten werden verurteilte Mörder und Verbrecher doch auch hingerichtet. Wir würden diese Aufgabe gerne hier übernehmen.“ Da war wieder seine provozierende Arroganz, die im krassen Gegensatz zu seiner so weichen Stimme stand.
„Damit würden wir uns zu Mitschuldigen machen“, warf Rita ein.
Der junge Mann hob die Augenbrauen. „Was ist Ihnen denn lieber? Dass wir Schuldige töten, die selbst getötet haben, oder unschuldige Menschen? Wir müssen schließlich überleben! Und wenn ich andere von uns überzeugen könnte, das Gleiche zu tun, bekäme unser Dasein sogar noch einen Sinn. Und denken Sie mal an den gesellschaftlichen Nutzen.“
Kurze Zeit lang herrschte Schweigen am Tisch.
„Was ist mit Tierblut?“, fragte Welsch unvermittelt.
Jason rümpfte die Nase. „Zur Not…“, meinte er, „aber energetisch lange nicht so gehaltvoll wie menschliches Blut.“
„Und wie oft …“ Welsch ließ diese Frage unausgesprochen.
„Das kommt darauf an. Wir können Wochenlang ohne Nahrung auskommen. Aber ich bevorzuge regelmäßige Mahlzeiten, sagen wir – alle zwei Wochen.“
Rita kam sich vor wie bei einer Verhandlung mit dem Teufel. Nervös spielte sie mit dem Weinglas vor ihr auf dem Tisch.
„Das können wir jetzt und hier nicht entscheiden“, sagte Welsch, und auch er fragte sich, ob er gerade seine Seele verkaufte.
„Gut“, sagte Jason, „aber Sie werden bestimmt noch weitere Fragen haben.“ Er lehnte sich zurück und betrachtete die beiden vor ihm wie ein Professor seine Studenten im ersten Semester.
„Sie können sich also am Tag wie bei Nacht frei bewegen“, stellte Welsch fest.
Jason nickte.
„Und was ist mit all diesen anderen Dingen: Weihwasser, Kreuze, Knoblauch?“, fragte der Kommissar weiter.
Jason lachte laut auf. „Kinderkram! Wir könnten sogar im Vatikan ein- und ausspazieren. Gott hat uns längst vergessen! Wir haben unsere eigenen Regeln und Gesetze.“
Welsch dachte daran, dass er gerade einige graue Haare dazu bekam. „Ich nehme nicht an, dass Sie im Dunkeln leuchten oder dass man Sie sonst wie erkennen kann?“
Wieder verneinte Jason. „Wenn Sie uns erkennen, ist es meist zu spät!“
„Sie können auch Gedanken lesen und den Willen von Menschen manipulieren“, fiel Rita in das Gespräch ein.
„Nur wenn diese es zulassen.“
„Spiegelbilder?“, fragte sie weiter.
„Können moderne Vampire genauso telepathisch hervorrufen wie Fotografien.“ Jason beugte sich näher zu Rita. Irgendetwas irritierte sie. Da war wieder dieser Geruch, den sie schon von früher her an ihm kannte.
„Außerdem können wir genauso empfinden wie normale Menschen, nur viel intensiver. Kinder zeugen können wir allerdings nicht.“
Das brachte die hübsche Ermittlerin wieder in Verlegenheit.
Noch bevor sie etwas darauf antworten konnte, ergriff der Kommissar erneut das Wort. „Dann ist alles, was in der Literatur über euch geschrieben steht, Schwachsinn?“
„Das nicht gerade, es bezieht sich nur auf die klassischen alten Vampire. Aber die sterben langsam aus. Sie können sich nicht genug anpassen an diese schnelllebige und technische Welt. Die findet man fast nur noch in den unterentwickelten Ländern.“
Dabei musste der Kommissar an Südamerika denken. Dahin war seine damalige Partnerin verschwunden, nachdem sie zum Vampir wurde.
Jason hatte den Gedanken aufgefangen und wandte sich dem Kommissar zu. „Ja, sie ist noch da. Dieser Richard, dem sie verfallen ist, entstammt einer der älteren Generationen. Er ist ein Grenzgängervampir.“
Das war ein wirklich denkwürdiger Abend für den Kommissar und seine Partnerin.
„Wie alt sind Sie denn eigentlich?“, fragte Welsch aus reiner Neugier.
„Ich wurde erst 1920 als Vampir geboren“, grinste Jason und wandte sich mit einem Augenzwinkern Rita zu. „Ich hoffe, der kleine Altersunterschied stört Sie nicht!“
* * *
Dieses erste vertrauliche Gespräch mit einem Vampir der Neuzeit warf weitere Fragen auf, aber diese würde Jason erst beantworten, wenn er seinen Handel unter Dach und Fach gebracht hatte, soviel war sicher. Rita und ihr Chef überlegten einige Tage hin und her, bis ihnen die Entscheidung von anderer Seite abgenommen wurde.
Es war nicht der erste anonyme Drohbrief, den der Hauptkommissar erhielt. Aber diesmal schien der Absender es ernst zu meinen. Vom Kollegen Gerhard erfuhr Welsch eines Morgens, dass seine kleine Nichte Anna auf dem Weg von der Schule nach Hause verschwunden war. Die Kleine ging in die Grundschule Bergstedt im Nordosten Hamburgs und brauchte gerade mal zehn Minuten Fußweg nach Hause. Martina Welsch, die Schwester des Kommissars, war allein erziehend und halbtags berufstätig, so dass sie mittags für die Achtjährige kochen konnte. Der Vater war vor drei Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Normalerweise begleiteten andere Elternteile die Kinder, doch es kam vor, dass aufgrund des kurzen Weges Anna auch mal alleine gehen musste. An diesem Mittwoch kam Anna nicht nach Hause.
„Wer sollte Lösegeld von einer allein erziehenden Mutter erpressen? Nein, diese Entführung hat einen anderen Hintergrund.“ Gerhard sprach besonders leise, damit die in Tränen aufgelöste Mutter, die gerade im Wohnzimmer von einem Seelsorger betreut wurde, das Gespräch in der Küche nicht mitbekam.
Harald Welsch zeigte dem Kollegen den Drohbrief, den er eine Woche zuvor erhalten hatte.
„Ich gehe davon aus, dass es sich um einen meiner Spezies handelt, den ich mal eingebuchtet habe. Leider habe ich den Brief nicht ernst genommen“, sagte er besorgt.
„Wir gehen der Sache nach, die Fahndung ist bereits in vollem Gange. Mach dir keine Sorgen, wir finden eure Kleine.“ Gerhard klopfte Harald beruhigend auf die Schulter.
‚Aber in welchem Zustand’, dachte dieser nur und beschloss, zusätzlich auf eigene Faust zu ermitteln.
Gemeinsam mit Rita ging er am nächsten Morgen die Liste der schweren Jungs durch, die durch sein Kommissariat hinter Gitter gelandet waren.
„In den letzten vier Monaten entlassen wurden nur zwei“, meinte Rita. „Einer davon hat wenigstens eine Familie, der andere ist in einem Obdachlosenheim gelandet.“
„Wir werden uns beide mal ansehen“, beschloss der Kommissar.
„Chef, ich hab’ mal ’ne Bank überfallen, aber ich werd’ doch kleinen Kindern nix antun“, bestritt Stefan Gregorius heftig bei der Befragung. „Ich hab’ doch selbst zwei Kinder. Nee, sowatt mach ich nich. Ich bin doch froh, dat ich raus bin aus’m Bau. Und ’nen Job hab ich auch ab nächste Woche. Nee, nee.“
Welsch glaubte ihm. Der unrasierte Typ im offenen Hemd vor ihm sah zwar wenig vertrauenerweckend aus, aber eine kaltblütige Kindesentführung traute der Kommissar ihm nicht zu.
Seine Frau und die beiden Kinder saßen dabei verschüchtert auf dem Sofa.
„Kommen Sie“, sagte Welsch zu seiner Assistentin. „Schauen wir uns mal den zweiten Verdächtigen an.“
„Der Klaus is nicht mehr da. Hat sich nur für ’ne Nacht hier eingetragen“, meinte der Hausmeister vom Obdachlosenheim und biss in seine Stulle.
„Hat er eine Adresse hinterlassen oder zu irgendjemandem Kontakt gehabt?“
„Nö, hat nur hier gepennt und is dann auf und davon.“
„Na klasse, ohne berechtigten Verdacht können wir keine Fahndung ausrufen“, meinte Welsch. „Sehen wir uns noch mal seine Akte an“, schlug Rita vor.
Zurück im Büro durchforsteten sie nochmals alle Unterlagen. Klaus Hilfrich hatte bereits eine lange Liste an Vorstrafen, bevor er wegen eines brutalen bewaffneten Raubüberfalls für längere Zeit eingesessen hatte.
„Den Toten hat er auf das Konto seines Komplizen geschoben.“
„Und der ist wiederum von dem Wachmann erschossen worden.“
„Für Mord würde der Typ ja auch heute noch einsitzen. Leider konnte der Staatsanwalt ihm nicht beweisen, dass er geschossen hat. Die Waffe lag in der Hand des Komplizen, und es gab keine anderen Fingerabdrücke, ebenso wenig wie Zeugen.“
„Und außerdem“, Rita klappte die Akte zu, „gilt Hilfrich als cholerisch und gewalttätig. Vielleicht ist er ja auch rachsüchtig! Schließlich hat seine Frau ihn mit dem Kind verlassen, nachdem er verknackt wurde. Und da Sie keine eigenen Kinder haben, Chef, rächt er sich über Ihre Schwester.“ „Reicht aber immer noch nicht als Grund für einen Fahndungserlass.“
„Dann hören wir uns doch mal im Bau um, vielleicht hat er ein paar Kollegen was erzählt!“
Manchmal hatte seine Assistentin echt gute Ideen, gab der Kommissar innerlich zu.
Leider blieben auch die Befragungen in der JVA Fuhlsbüttel ohne wirkliches Ergebnis. Einer der Insassen erzählte wohl noch, dass Klaus Hilfrich früher einmal zur See gefahren war, was die Suche nicht gerade erleichtern würde, falls er anheuern sollte. Den Kommissar beschlich ein ungutes Gefühl bei diesem Gedanken.
* * *
Der rostige Seelenverkäufer aus Honduras dümpelte an den Tauen vor sich hin. Das Schiff wartete auf seine Abwrackung. Unten in die leeren Frachträume drang selbst am helllichten Tag kaum Licht hinein. Auf einem Stuhl saß die kleine Anna, gefesselt und mit einem Taschentuch im Mund.
Die eingerosteten Türen des Frachters standen alle weit offen und viele ließen sich nicht mehr schließen, also hatte Klaus Hilfrich das Kind anbinden müssen. Die kreischenden Geräusche des Metalls, die durch das tote Schiff hallten, machten dem kleinen Mädchen Angst. Außerdem war es kalt hier unten. Seit gestern war der Mann, der sie auf dem Heimweg entführt hatte, nicht mehr aufgetaucht.
Zu dieser Zeit waren die Beamten im Hafen ausgeschwärmt, sie befragten die Mannschaften der im Hafen liegenden Schiffe, vor allem die der ausländischen Frachter. Niemand hatte Klaus Hilfrich gesehen. Welsch und Rita hatten sich schließlich bei ihrer Suche getrennt auf den Weg gemacht.
Es war purer Zufall, dass Rita Hold den alten Kahn an einem abgelegenen Pier entdeckte, gerade als sie die Suche schon abbrechen wollte. Der Name des Schiffes war unleserlich, die Farbe längst abgeblättert. Eine Gangway gab es nicht, um auf das Schiff zu gelangen, stattdessen hing eine Strickleiter an der Bordwand. Und genau das machte Rita stutzig. Ohne zu zögern kletterte sie auf den Frachter und begann, sich vorsichtig umzuschauen.
‚Das Ding besteht ja nur noch aus Rost’, dachte sie. Die Metall-Treppen, die in den Bauch des Schiffes führten, sahen lebensgefährlich aus. Behutsam setzte die Polizeibeamtin einen Schritt vor den anderen, prüfte, ob die nächste Stufe ihr Gewicht aushalten würde. Dabei kam in ihr unweigerlich der Gedanke an eine Diät hoch.
Unten angekommen, fand sie das Schiff schon halb ausgeschlachtet vor. Die Türen zu den einzelnen Kajüten standen weit offen, darin nur die Metallrahmen der Kojen. Die Frachträume ähnelten riesigen, leeren Hallen. Eine fette Ratte lief ihr über die Füße. Rita zuckte zusammen. Die Geräusche hier unten waren ohrenbetäubend, sobald das Metall aneinander rieb. Dadurch wurden ihre Schritte übertönt, aber leider auch alle anderen Geräusche.
Minuten später fand Rita die kleine Anna weinend auf ihren Stuhl gefesselt und eilte zu ihr. Doch noch bevor sie sie losbinden konnte, hörte sie die herrische Stimme von Klaus Hilfrich hinter sich. „Stehen bleiben, junge Frau! Und nehmen Sie die Hände hoch!“
Rita erstarrte und drehte sich dann ganz langsam um. Eine Automatik war auf sie gerichtet. In der anderen Hand hielt der muskulöse Mann mit den ungepflegten, halblangen Haaren einen weiteren Stuhl, den er nun zu Rita hinüber schleuderte.
„Werfen Sie Ihre Waffe weg und setzen Sie sich hin“, forderte Hilfrich sie auf.
Dann fesselte er die Frau mit dünnen Tauen Rücken an Rücken an den Stuhl des Kindes.
„Was soll das? Sie sind doch gerade erst aus dem Gefängnis entlassen worden?“, fragte Rita um einen ruhigen Ton bemüht, um den Verbrecher nicht herauszufordern.
„Klar, und wenn’s nach Ihrem Chef gegangen wär’, säß ich immer noch drin – wegen Mordes!“
„Aber das konnte man Ihnen doch nicht nachweisen!“
„Heißt aber nicht, dass ich’s nicht war!“ Der Typ grinste Rita frech ins Gesicht und stopfte auch ihr ein Taschentuch in den Mund.
„Hier unten findet Sie so leicht keiner. Aber Sie haben ja Gesellschaft beim Verrecken!“ Mit diesen Worten steckte Klaus Hilfrich seine Waffe in den Gürtel und wandte sich zum Gehen.
Rita sah den großen Schatten nur kurz aus den Augenwinkeln, und dann war sie froh, dass das kleine Mädchen hinter ihr die folgende Szene nicht mitbekam: Jason Dawn hatte sich wie ein lautloser Racheengel auf Klaus Hilfrich gestürzt und schlug seine Zähne in die Kehle des Kriminellen.
* * *
„Sie hätten ihn nicht direkt töten müssen“, sagte Rita leise, als Jason sie und das Mädchen losband.
Jason sah sie mit diesem überheblichen Blick an, den sie bereits kannte. „Vielleicht hätten Sie ihn gar nicht erst laufen lassen sollen.“
„Wie haben Sie uns überhaupt gefunden?“, fragte Rita.
Jason lächelte. „Das ist überhaupt kein Problem. Erst recht nicht, seit wir eine so schöne, telepathische Verbindung zu einander haben. Und ich liebe es, sie zu entfesseln!“
Seine arrogante Art konnte sie auf die Palme bringen!
„Trotzdem, danke“, sagte Rita jetzt, und das meinte sie ehrlich. „Wahrscheinlich haben Sie uns beiden das Leben gerettet.“
„Jederzeit zu Diensten!“ Jason verbeugte sich theatralisch vor ihr und verschmolz wieder mit den Schatten im Schiffsrumpf.
Als Rita das kleine Mädchen zurück zu ihrer Mutter brachte, war diese überglücklich. Sie bedankte sich überschwänglich. Kommissar Welsch, der von Rita über Funk informiert worden war, war bereits bei seiner Schwester eingetroffen und dankte seiner Assistentin, indem er sie wortlos an sich drückte.
Soviel Emotion war Rita von ihrem Chef nicht gewohnt. ‚Wahrscheinlich hat er mehr Herz, als er vorgibt’, dachte sie für sich.
„Falls Sie sich morgen mal einen Tag frei nehmen wollen…“, schlug er vor.
„Schon gut, Chef, aber ich denke, wir sollten lieber darüber nachdenken, wie wir den Bericht abfassen – nachdem Jason so drastisch eingegriffen hat.“
Welsch kratzte sich am Kinn. Das tat er immer, wenn er ziemlich ratlos war.
Rita musste lächeln. Beruhigend klopfte sie ihm auf die Schulter. „Uns wird schon was einfallen. Bis morgen dann.“
Wieder saßen der Kommissar und seine Partnerin dem ganz in Schwarz gekleideten jungen Mann gegenüber. Durch seine Kleidung wurde der blasse Teint nur noch mehr betont und die großen, dunklen Augen hervorgehoben. Zwei junge Damen am Nachbartisch warfen ab und zu einen vielsagenden Blick zu Jason hinüber. Rita fand das kindisch.
„Kommen wir also zu Sache“, begann Kommissar Welsch das Gespräch. „Wir können Ihnen natürlich keine Liste mit Namen zur Verfügung stellen.“
„Wie bedauerlich“, warf Jason ein.
„Aber…“, der Kommissar zögerte, „aber wir könnten Ihnen gestatten, uns sozusagen ‚undercover’ bei den Ermittlungen behilflich zu sein. Was Sie dann mit den Informationen anfangen, die Sie von uns erhalten, bleibt ganz Ihnen überlassen.“
Jason nickte zufrieden. „Das klingt akzeptabel.“
„Wie haben Sie eigentlich offiziell meine kleine Intervention erklärt?“, fragte er dann neugierig.
„Rattenbisse!“, erwiderte Rita kurz.
Jason prustete los. „Nicht schlecht. Hätte ich Ihnen gar nicht zugetraut. Ich hoffe, das war nicht persönlich gemeint.“
„Eine Frage müssen Sie mir noch beantworten“, forderte Rita. „Wieso verwandeln sich Ihre Opfer nicht in weitere Vampire?“
„Diese Art der – sagen wir mal – Vermehrung ist nur wenigen, alten Vampirmeistern vorbehalten. Wir modernen Vampire sind dazu nicht mehr fähig. Wir sind eher so was wie Hybriden.“
Welsch und Rita blickten ihn erstaunt an.
„Es kann nur eine begrenzte Anzahl von uns geben, alles andere wäre selbstzerstörerisch, wie immer in der Natur“, versuchte Jason zu erklären.
„Und wie … ich meine, wie kann man Sie töten?“ Kommissar Welsch versuchte, den Vampir aus der Reserve zu locken.
„Ich hoffe, Sie haben Verständnis dafür, dass ich Ihnen diese Frage nicht beantworten werde“, grinste Jason.
„Und ich hoffe, dass Sie Ihr Versprechen halten“, meinte der Kommissar.
Jason legte seine rechte Hand auf seine Herzgegend. „Mein Ehrenwort!“, beteuerte er, nicht ohne einen gewissen Spott in seiner Stimme.
Rita seufzte. Sie wurde einfach nicht schlau aus ihm.
* * *
Wenige Tage später erhielt Rita Hold eine Einladung von Jason. Wie es seine charmant-makabre Art war, lag an diesem Tag eine schwarze Rose mit einer Karte vor ihrer Wohnungstür.
‚Na, wenigstens hält er sich mal an menschliche Gepflogenheiten’, dachte Rita, als sie die Karte öffnete.
„Ich möchte Sie am Samstagabend in meine Welt entführen. Bitte kleiden Sie sich entsprechend. J.D.“, stand dort in kunstvollen Lettern. Das konnte alles Mögliche bedeuten. Trotzdem konnte Rita eine gewisse Vorfreude nicht verbergen.
In der Cathedrale Noir in der Hamburger Prinzenbar bestand Dresscode. Der Club war ein Insidertipp der Gothic Szene. Rita Hold kam sich in ihrem Alter zunächst einmal völlig deplaciert vor. Dabei fiel sie in dem langen, schwarzen Abendkleid aus Samt, das ihre Figur vorteilhaft umspielte, gar nicht auf. Die teilweise extrem geschminkten Gestalten erinnerten sie aber eher an einen Maskenball. Doch Jason schob sie weiter durch die Menge. Auf der Galerie fanden Sie ein halbwegs ruhiges Plätzchen außerhalb des Getümmels.
Der junge Mann verschwand für kurze Zeit und kam mit einer dunkelhaarigen Schönheit zurück.
„Darf ich vorstellen – Laetitia, eine von uns.“
Rita spürte Unbehagen, doch Jason beruhigte sie. „Keine Angst, es wird Ihnen nichts geschehen. Laetitia wird sich in Zukunft auch an die neuen Regeln halten, das verspreche ich Ihnen.“
Laetitia begrüßte Rita und kam ihr dabei näher, doch trotz ihres Lächelns ging eine Bedrohung von ihr aus. Mittlerweile waren Ritas Sinne dafür geschärft. Im diesem Augenblick fühlte sie sich überhaupt nicht mehr wohl.
„Ihr Boss wollte doch wissen, wie man uns erkennen kann“, flüsterte ihr Jason ins Ohr. Und plötzlich fiel es Rita auf. Der Geruch von Laetitia war der Gleiche wie bei Jason. Ein zarter Duft von Moschus…
Im Nachhinein konnte Rita nicht behaupten, dass es ein schöner Abend gewesen war, aber sie berichtete Kommissar Welsch direkt am nächsten Montag von ihrer Erkenntnis.
„Das Problem ist nur“, meinte dieser, „wenn das stimmt, dann ist man bereits in Gefahr, denn einen Geruch nimmt man erst in unmittelbarer Nähe war.“
„Ich denke, genau deshalb hat Jason uns auf diese Art gewarnt.“
„Heißt das, wir sollten dem Knaben trauen?“ Harald Welsch war nach wie vor voller Misstrauen, was diese Geschöpfe anging. Sie passten einfach nicht in sein Weltbild.
Rita zuckte die Achseln. „Wenn er noch weitere seiner Art überzeugen könnte…“, begann sie.
„Dann gibt es in unserem Land bald sehr viel weniger Schwerverbrecher“, fuhr der Kommissar fort. „Irgendwie komme ich mir vor, wie bei einer Verschwörung. Ganz zu schweigen von der notwendigen ‚kreativen Berichtführung’.“ Den Kommissar schauderte bei dem Gedanken, die Taten dieser Wesen decken zu müssen.
„Der Vorteil ist, dass sie Unschuldige in Ruhe lassen werden, wenn es Jason gelingt, sie zu überreden. Das Ganze hat allerdings auch einen Nachteil“, gab seine Assistentin zu bedenken. „Wir sind in gewisser Weise von diesem Jason abhängig. Er ist der Mittler zwischen beiden Welten.“
„Nur, wenn wir ihm trauen können“, sagte Kommissar Welsch zu sich selbst.
Trotzdem hatte Rita es gehört. „Wir haben keine andere Wahl.“
* * *