Die Frau aus der anderen Welt
Von MrVienna am 2. Juni 2012 veröffentlichtHerr Maier mühte sich das Treppenhaus hoch. Oben angekommen, holte er die Schlüssel aus seiner Manteltasche, erfüllte damit das Miethaus mit hallendem Klirren, öffnete die Tür zu seiner wohlgeordneten Wohnung und betrat – vernehmbar seufzend – das Vorzimmer. Herr Maier seufzte jeden Abend, sobald er die Wohnungstür hinter sich geschlossen hatte. Ob er sich damit die Last des Tages von der Seele seufzt oder es einfach aus Gewohnheit tut? Wie auch immer. Nach dem täglichen Seufzer schlüpfte er in seine Hausschuhe, was auch jedes Mal gelingt, ohne einen Blick danach zu verschwenden. Die Pantoffeln erwarten ihn jeden Abend gehorsam und millimetergenau auf der gleichen Stelle. So war es immer und so soll auch immer bleiben. Zur gleichen Zeit, während er in seine Hausschuhe schlüpfte, stellte Herr Maier seine Tasche sorgsam auf dem Schuhkästchen ab. Nicht, ohne sie gleich darauf noch einmal zurechtzurücken. Auch das gehörte zu seinem täglichen Ritual. Die Tasche soll exakt einen Zentimeter Abstand zur Wand einhalten. So war es immer und so soll auch immer bleiben.
Herr Maier seufzte nun noch einmal. Sein Kopf summte, er war noch vollgefüllt von den grauen Häuserzeilen mit dem chaotischen Straßenverkehr. Und auch von den Menschen, die sich auf den Gehsteigen mit unpersönlichen Gesichtern in verschiedene Richtungen bewegten. Denen es völlig egal war, was in ihm vorging. Ob es ihm gerade gut ging, oder ob er im nächsten Moment tot umfallen sollte. Ja, genauso und nicht anders sind die Menschen. Gefühllos und kalt. An dieser Tatsache gab es nichts zu rütteln. Davon war Herr Maier fest überzeugt.
Doch hier, in seiner Wohnung, fühlt sich Herr Maier wohl. Hier herrscht Ordnung. Und Veränderungen hatten hier schon gar nichts zu suchen. Die Möbel waren um Jahrzehnte gealtert und sind inzwischen seine gute Freunde geworden. Nichts, was sich zwischen den Wänden mit ihren alten Tapeten befindet, hat jemals seinen Platz gewechselt. So liebte er Herr Maier. Alles soll bleiben, wie es ist. Auch kein Tag soll sich von dem anderen unterscheiden. Nur so lässt es sich leben. Und Herr Maier ahnte nicht im Geringsten, was der heutige Tag noch mit ihm vorhatte. Dass seine geordnete Welt in Kürze auf den Kopf gestellt werden sollte. So etwas ahnt man auch selten. Besser gesagt, gar nicht. Nicht einmal dann, wenn man behauptet, es gibt so etwas wie eine Vorahnung.
Herr Maier war Buchhalter mit einem kleinen Gehalt und er hatte keine Frau. Er war für Frauen unsichtbar. Sie blickten durch ihn hindurch, als bestünde er aus Luft. Seine Unscheinbarkeit grenzte beinahe an Begabung. Als er vor Kurzem mit einer Dame auf der Straße zusammenstieß, blickte diese irritiert ins Leere und ging dann achselzuckend weiter. Nicht einmal ein Vorfall dieser Art konnte bewirkten, dass Herr Maier wahrgenommen wurde.
In seiner Dienststelle saß er einer hübschen Kollegin gegenüber. Sie mochte ungefähr zwanzig sein, also fast dreißig Jahre jünger als er. Ihre klassischen Gesichtszüge und der kurvige Körper ließen Herrn Maier manchmal aus sich herausgehen. Dann unterbrach er seine Arbeit und erzählte Dinge über sich. Über seine Eindrücke betreffend der Welt, seine diesbezüglichen Meinungen und sonst noch was. Solche Dinge eben. Und das Ergebnis? Die hübsche Kollegin beantwortet seine Bemühungen jeweils mit einem intensiven Gähnen, worauf ein Tränenfluss folgte, der die Schminke ihrer schwarzgeränderten Augen verflüssigte und schwarzblaue Spuren über ihre hübschen Wangen zeichnete. Dann holte sie genervt den Taschenspiegel aus der Handtasche, tupfte mit giftigem Blick in ihrem Gesicht herum und war ab diesem Zeitpunkt nur mehr für ihr Spiegelbild zu haben.
Nun, Herr Maier hatte es aufgegeben, jemals eine Frau zu finden. Alle weiblichen Geschöpfe, die bisher seinen Lebensweg gekreuzt hatten, rannten unrasierten Abenteurertypen mit offenen Hemdkrägen hinterher. Keineswegs so einen anständigen Menschen wie ihn. Vollkommen unverständlich! Herr Maier tröstete sich mit der Erkenntnis, keine Frau wird jemals seinen Sinn für Ordnung erreichen können. Und deshalb hatte er auch an den Frauen nichts versäumt. Auch auf ihre nächtlichen Besuche in seinen Träumen könnte er gerne verzichten.
Er nahm jetzt die Krawatte ab, warf dabei einen prüfenden Blick auf seinen Schreibtisch, wo seine persönlichen Dinge abgelegt waren. Sie waren geordnet, als wären sie mit Lineal und Zirkel ausgerichtet. Zufrieden beschloss er, sein Abendessen zuzubereiten.
Es waren jetzt nur wenige Schritte durch seine kleine Wohnung, die ihn noch von dem kommenden und unglaublichen Erlebnis trennten. Es begann damit, dass sich die Küchennische seinen Blicken entzog. Mitsamt der Herdplatte, dem Küchenschrank, dem kleinen Tisch, worauf er immer sein Mahl zubereitete. Alle diese gewohnten Dinge verbargen sich hinter einer dichten Nebelwand. Oder genauer: Hinter einer Vielzahl weißgrauer Schwaden, die sich vor der Küchennische aufgebaut hatten, sich schlangenartig durch die Luft wanden, ineinander verschränkten, wieder lösten, verdichteten, dann gleich wieder expandierten. Und mit jeder ihrer Bewegung den Raum mit einem kalten, fremdartigen Hauch füllten.
Herr Maier wich einige Schritte zurück. Das, was hier passierte, passte absolut nicht in sein diszipliniertes Weltbild. Deshalb beschloss er, über diese seltsame Erscheinung, die so unangekündigt in sein ordentliches Leben eingebrochen war, einmal gründlich nachzudenken. Er konnte weder Angst noch Unruhe empfinden, am ehesten noch Unverständnis und Befremden.
Nun legten die Schwaden an Tempo zu. Sie wanden und drehten sich hektischer, steigerten zunehmend ihre Verrenkungen, lösten sich auch nicht mehr voneinander, sondern verdichteten sich, verloren ihre Leichtigkeit, bis sie sich schließlich zu einer menschlichen Gestalt verfestigten. Dieses Geschehen half Herrn Maier natürlich keineswegs aus seinem Schwebezustand zwischen Unverständnis und Befremden. Nicht nach dem, was sich eben vor seinen Augen abspielte. Die Nebelschwaden hatten sich plötzlich zu einer zierlichen Frau geformt. Sie war bekleidet mit einem grauen Kostüm, ihre dunklen Haare trug sie hochgesteckt und die feinen Augenbrauen gaben dem Gesicht einen fragenden Ausdruck. Sie wirkte verunsichert, befühlte mit beiden Händen ihren Körper, offenbar wollte sie sichergehen, ob auch kein Teil von ihr verloren gegangen war.
Ungeachtet der ungewöhnlichen Ankunft dieser Frau, fand Herr Maier, es sei nun an der Zeit, sich seiner guten Manieren zu besinnen. Er trat er einen Schritt auf sie zu und stellte sich mit einer angedeuteten Verbeugung vor: „Maier.“
Die zierliche Frau, eben noch aus den Nebelschwaden geboren, zog ihre Augenbrauen hoch. „Natürlich ist unser Name Maier “, sagte sie dann mit fester, klangvoller Stimme.
Es erschien Herrn Maier, als läge eine leichte Ironie in ihrer Stimme. Und das brachte ihn aus der Fassung. Was vorher ihr ungewöhnliches Erscheinen nicht geschafft hatte.
„Unser Name?“ Stotterte er. „Sie meinen, auch Sie heißen Maier?“
Die Mimik der Frau wechselte in einen verstehenden Ausdruck. Dann zog ein leichtes Lächeln über ihr Gesicht.
„Normalerweise sollten sich Eheleute kennen,“ sagte sie dann schalkhaft.„Aber bei uns liegen die Dinge etwas anders. Nun bitte, überzeuge dich selbst.“ Sie griff mit der Rechten über ihren Kopf und hielt plötzlich ein Papier in der Hand.
„Geh vorsichtig damit um, es ist das Original,“ fuhr sie fort, während sie ihm ein Dokument unter die Nase hielt.
Herr Maier griff es zögernd und studierte es. Lange und genau. Aber sooft er es auch untersuchte, es gab keinen Zweifel. Es war eine Heiratsurkunde, ausgestellt von seinem Bezirksamt, welches amtlich bestätigte, er sei mit einer gewissen Anna Maier, geborene Schmidt, verheiratet. Und das bereits seit fünf Jahren. Das Dokument war echt, er kannte den Stempel, weil er in seiner Eigenschaft als Buchhalter schon einige Male mit dem Amt zu tun hatte. Da Herr Maier ein humorloser Mensch war, zog er auch nicht in Betracht, es könnte sich dabei um einen Scherz handeln. So verblieb er eben in seiner Ratlosigkeit und beschränkte sich auf die unangenehme Ahnung, es könnte sich hier um etwas Unerklärliches handeln.
Frau Anna Maier dagegen fand die Situation völlig normal. Sie hatte sich inzwischen auf den Weg durch die Wohnung gemacht, öffnet Schubladen, schloss diese wieder mit einem zufriedenen Nicken, inspizierte dann den Kühlschrank, griff sich daraus eine Wurstscheibe, welche sie mit prüfender Miene kostete, und kontrollierte schließlich seinen Kleiderschrank, wobei sie sich nicht scheute, auch in den Taschen seiner Kleidungsstücke herumzuwühlen. Schließlich trippelte sie auch noch in das Schlafzimmer, betastete das Bett und schüttelte ein Polster auf.
„Also gut,“ begann sie dann mit ihrer festen, klangvollen Stimme, während sie aus dem Schlafzimmer zurückkam, sich Herrn Maier zu wandte, dabei seinen Gesichtsausdruck ignorierte, der den Eindruck machte, als hätte Herr Maier eben einen Fisch auf einem Fahrrad vorüberfahren gesehen. „Dass wir verheiratet sind, das hast du ja eben gesehen. Mit heutigem Tag sind es genau fünf Jahre her. Es war auf dem Standesamt, hier gleich den nächsten Häuserblock. Du kannst das nicht wissen denn es geschah nicht in dieser Welt, sondern in der nächstliegenden Parallelwelt. Was aber daran nichts ändert, dass wir ein Ehepaar sind.“
Herr Maier schluckte: „Ehepaar? Parallelwelt? Aber ich kann mich nicht erinnern, dort gewesen zu sein?“
Anna Maier nickte nachsichtig. „Du warst nicht nur dort, du bist es immer noch. Aber nicht nur in meiner Welt. Auch in den vielen anderen Parallelwelten. Und überall bist du ein wenig abgewandelt. Du bist derselbe, aber doch nicht ganz gleich.“
Ratlosigkeit schwächte Herrn Maiers Knie. Deswegen fand er es an der Zeit, sich auf einen Stuhl zu setzten. „Derselbe, aber nicht der Gleiche,“ bestätigte er dann mit hohler Stimme.
„Schon gut, du musst dich deswegen nicht so anstellen. Ich weiß, das Ganze ist etwas kompliziert. Denk dir einfach: Wir kommen jeder aus einer anderen Filiale des Universums. Oder wie kann ich es noch erklären? Vielleicht so: Jede Parallelwelt gleicht der anderen wie ein Ei dem anderen. Aber wie nicht jedes Ei dem anderen ganz genau gleicht, gibt es auch kleine Unterschiede zwischen unseren regionalen Welten. Zum Beispiel ist in unserer Region die Technik schon weiter entwickelt. Anders wäre ich wohl nicht hier. Aber wie meine Reise funktioniert, das kann ich dir auch nicht sagen. Mir wurde erklärt, das Raum-Zeit-Kontinuum sei bereits altersschwach, wodurch sogenannte Wurmlöcher entstanden sind, durch die man nun in verschiedene Dimensionen gelangen kann. Mehr weiß ich nicht, es ist auch nicht wichtig.“
Herr Maier nickte. Er war es gewohnt, Dinge als gegeben hinzunehmen, die ihm von anderen Menschen vorgesetzt wurden. Er war kein kritischer Geist, er wollte nur Ordnung und Ruhe in seinem Leben haben, alles andere war nicht wert, sich den Kopf zu zerbrechen. Aber davon abgesehen: Diese Frau gefiel ihm. Ihr Gesicht wirkte etwas langweilig, was er enorm anziehend fand. Und ihre Kleidung schien frisch gebügelt, auf ihrem Kopf lag kein Haar in der falschen Richtung. Alles an ihr war ordentlich und planmäßig. Genauso wie sein Leben. Diese Entdeckung ließ seine Hormone erwachen. Er fand sich aber bald wieder und raffte sich zu der Frage auf: „Was ist der Grund ihres Besuches?“
Sie verzog ihr Gesicht nach Art einer ärgerlichen Schuldirektorin, was Herr Maier ebenfalls hinreißend fand, dann antwortete sie impulsiv: „Habe ich das zuhause überlesen, dass sich hier die Ehepaare siezen? Na meinetwegen. Warum auch nicht. Du möchtest wissen, warum ich hier bin? Kannst du dir das nicht denken? Deinetwegen natürlich. Als ich dich geheiratet habe, ich meine, in meiner Parallelwelt, da hattest du die gleiche Art, die du nun hier hast. In meiner Welt aber hast du dich verändert. Dein Ordnungssinn, deine Genauigkeit, alles hast du verschlampt. Keine Spur mehr davon. Beim Weggehen lässt du deine Hausschuhe jedes Mal auf einer anderen Stelle zurück. Beim Kommen legst du deine Tasche irgendwo hin, sodass du sie am nächsten Tag erst suchen musst. Diesen Zustand halte ich einfach nicht mehr aus.“
„Entsetzlich,“ pflichtete Herr Maier bei. Teils mitfühlend teils schuldbewusst.
Anna Maier zeigte jetzt Emotionen und kämpfte gegen aufsteigende Tränen. „Du sagst es. Es ist wirklich entsetzlich. Ich habe doch das Recht, mit dem ordentlichen Mann zusammenzuleben, den ich geheiratet habe. Das wurde mir auch von der Rechtsberatung in meiner Welt bestätigt. Und deswegen wurde mir auch die Reise bewilligt. Trotz der hohen Kosten, die unseren Steuerzahlern damit entstehen. Trotzdem. Eben, weil ich im Recht bin.“
Man konnte ihr nun ein hochgradiges Selbstmitleid ansehen und Herr Maier hätte sie deswegen auch gerne in die Arme genommen, hätte er nur gewusst, wie man dabei vorgeht. Er hatte bisher noch nie eine Frau in den Armen gehalten.
Nun holte sie tief Luft und flötete erneut: „Die Rechtsberatung hat mir auch bestätigt, dass du verpflichtet bist, die Ehe mit mir fortzuführen. Es ist nicht meine Schuld, wenn du dich in meiner Weltdimension so verändert hast. In welcher Dimension auch immer, das ist völlig egal. Die spielt überhaupt keine Rolle. Das wurde mir bestätigt.“
Herr Maier realisierte langsam die Situation: Er hatte auf ungewöhnliche Art eine Frau gefunden. Nein, sie hatte ihn gefunden. Sie war aus irgendeiner Dimension zu ihm gekommen. Und sie war kein Traumbild, welches bloß nachts in seinen Träumen auftauchte und wieder verschwand. Nein, sie war eine reale Frau aus Fleisch und Blut. Eine Frau, die ihn als Mann wahrnahm und mit ihm zusammenleben möchte.
Eine Sekunde überlegte er ernstlich, ob er vorsichtshalber nach dem Blutdruckmesser suchen sollte. Dann besann er sich darauf, es sei nun wichtiger, an die Zukunft zu denken. Wenn sie nun bei ihm wohnen wird, so wird er auch mehr Platz benötigen. Die Wohnung war klein, er hatte nur ein schmales Bett.
Als hätte sie seine Gedanken gelesen, legte sie gleich los: „Natürlich werden wir in unserem Haus wohnen. Hier wird es vielleicht doch etwas zu eng für uns beide.“
„Unser Haus?“ echote Maier mechanisch.
„Ach so, das kannst du auch nicht wissen. Alles wegen der kniffligen Dimensionen und Parallelwelten. Also gut: Du hattest in meiner Welt eine glückliche Hand bei Finanzspekulationen. Wenigstens das hast du gut gemacht, das muss ich zugeben. Nun haben wir ein großes Haus mit Swimmingpool und Garten. Und ein dickes Bankkonto. Arbeiten werden wir also nicht mehr brauchen.“
Verstohlen kniff sich Herr Maier hinter dem Rücken in die Hand. Er wollte ganz sicher gehen, ob es sich vielleicht nicht doch um einen Traum handeln könnte.
„Aber,“ gab er zu bedenken. „Der Andere. Ich meine, ich in der anderen Welt. Werde ich mit mir und mit dir gemeinsam im Haus wohnen. Also du mit meinem doppelten Ich?“
Frau Maier lachte vergnügt auf. „Nein, das würde mir noch fehlen. Dafür hätte ich diese Reise nicht machen müssen. Natürlich nicht. Es wird ein Transfer durchgeführt. Ihr beide werdet einfach ausgetauscht. Das habe ich mit meiner Rechtsberatung schon geregelt. Auch vom Gericht habe ich dazu die Zustimmung. Sobald man uns in meine Welt zurücktransferiert, wird er – beziehungsweise dein Parallel-Ich – hierher geschickt. Zweckmäßigerweise bei Nacht während des Schlafs. Dein Parallel-Ich soll es ja nicht merken. Das würde nur Probleme geben.“
„Alles geschieht ohne Einwilligung meines zweiten Ichs?“ wagte Maier einzuwerfen.
Sie lachte erneut. Diesmal in einer Art, wie man über eine einfältige Frage lacht.
„Ob er damit einverstanden ist oder nicht, das ist nicht relevant. Ich habe vorhin schon erwähnt, dass wir eurer Welt etwas voraus sind. Nicht nur technisch. Wir haben auch unser Frauenrecht stark verbessert. Unsere gesamte Gerichtsbarkeit besteht aus Frauen. Und es ist doch klar, dass wir zusammenhalten.“
Nach den letzten Worten lächelte sie entwaffnend. Wieder sah sie wie eine langweilige Schuldirektorin aus, was Herrn Maier ungemein gefiel. Der kalte Schauer, der ihm eben noch – nach ihren letzten Worten – wie mit Mauspfoten über den Rücken gelaufen ist, verlor sich wieder. Und die wenigen zurückgebliebene Bedenken hatten gleich viel weniger Gewicht. Trotzdem nahm er sich vor, nach einer Bedenkpause zu entscheiden, ob er zulassen sollte, was diese Frau aus der anderen Welt mit ihm vorhatte.
Aber er hatte die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Zuerst fühlte er ihre zarte Hand in der seinen. Dann wurde ihr Griff ruckartig fester. Als Nächstes verschwammen die Umrisse der Umgebung, wechselten in einen orangefarbenen Nebel, und schließlich fand er sich in einem großen Zimmer mit riesigen Fenstern, durch die der blaue Himmel, luftige weiße Wolken, sowie grüne Baumwipfeln zu sehen waren. Der Raum war mit teuren Sitzmöbeln aus Leder, wuchtigen Schränken und Tischen aus Eichenholz ausgestattet. Der Fußboden bestand aus edlem Parkett und von der Decke hing ein imposanter Kristallluster.
„Wir sind da,“ hörte er seine Frau aus der anderen Welt reden. „Das ist unser Wohnzimmer. Draußen siehst du unser Grundstück. Nun komm mit, ich zeige dir jetzt dein Haus. Später dann den Garten und dein Auto.“
Maier war jetzt klar, dass die Wirklichkeit manchmal schöner sein konnte, als ein Traum. Er folgte ihr wie ein Schlafwandler. Und er fürchtete wieder, es könnte sich herausstellen, er habe dies alles nur geträumt…
Am nächsten Morgen erwachte Herr Maier Nummer zwei aus der Parallelwelt. Er fuhr hoch und blickte empört den Wecker an, der ihn zu ungewohnt früher Zeit aus dem Schlaf gerissen hatte. Dann starrte er auf das schmale Bett, welches ihm fremd war. Von ringsherum starrten ihn alte Möbel an. Die Tapeten an den Wänden sahen ehrwürdig ergraut aus und alle Dinge im Raum waren nach einer strengen Ordnung aufgestellt oder abgelegt. Geradeso, als wäre er in einer Kaserne aus dem vorigen Jahrhundert gelandet.
„Anna, wo bist du!“ Seine Stimme verlor sich zwischen den kümmerlichen Möbelstücken. „Was ist hier passiert? Wie komme ich in dieses verdammte Bett. Und überhaupt, was soll dieses mickrige Zimmer?“
Aber Anna konnte ihn nicht hören. Sie befand sich inzwischen mit Herrn Maier Nummer eins in ihrer Parallelwelt. Und Herr Maier Nummer zwei, der aus seiner Parallelwelt in die unsrige transferiert wurde, wird sich in der nächsten Zeit mit einigen Schwierigkeiten auseinandersetzen müssen.