Ein denkwürdiger Ausflug
Von Pudelwohl am 7. März 2012 veröffentlichtDer Weg schien kein Ende zu nehmen und Kathrin wurde immer gereizter. Noch nie war ihr eine Wanderung auf dem Rheinsteig so lang erschienen. Normalerweise bot der 320 km lange Wanderweg zwischen Wiesbaden und Bonn durch schöne Landschaften und Aussichtspunkte zuviel Abwechslung um bei einer leidenschaftlichen Wanderin, wie sie es war, Langeweile aufkommen zu lassen. Es war ihr Ehemann, der ihr den Weg in doppeltem Sinne verlängerte. Peter, der ohnehin nicht mit ihrem Tempo mithalten konnte, lief seit der Mittagspause noch langsamer und schwitzte und ächzte noch mehr. Warum hatte er auch fast zwei Liter Bier in sich hineingießen müssen? Und dazu noch das fettige Essen …
Am Schlimmsten aber war, dass selbst die offensichtliche Erschöpfung ihn keineswegs davon abhielt, ununterbrochen zu reden. Wenn er sich nicht gerade über die Anstrengung beklagte, sprach er über nichts anderes als seine Arbeit und das auf so quälend langweilige und umständliche Weise, dass es Kathrin nicht nur schwer fiel, ihm zuzuhören, sondern sie auch immer wütender machte. Alles an ihm regte sie auf, seine Sprache, seine Gestik und sogar sie Art, wie er sich gerade die verschwitzte Stirn wischte. Kathrin konnte sich nicht mehr erinnern, wann sie angefangen hatte, sich vor ihrem Mann zu ekeln. Besonders seine Passivität regte sie auf. In den fünf Jahren ihrer Ehe hatte sie sich oft gefragt, was sie am Anfang an ihm gefunden hatte und war selten zu einer Antwort gelangt. War es am Ende doch nur das Geld gewesen? Damals hatte sie es sich wohl nicht eingestehen wollen.
Was sie noch mehr gegen ihn aufbrachte, war dass ihn ihre offenkundige Abneigung nicht einmal zu stören schien. Selbst darüber, dass sie seit mehr als einem Jahr nicht miteinander geschlafen hatten, hatte er sich nie beklagt. Das war typisch für ihn! Zuhause wollte er nur in Ruhe vor dem Fernseher sitzen. Wenn man ihm dann einmal seine Gesellschaft aufnötigte, bequatschte er einen mit dem größten Unsinn.
“Im Büro verfolge ich schon fleißig die Zeitarbeitsfirmen im Internet. Jobs Düsseldorf gibt es doch genug! Vielleicht finde ich bald eine neue Anstellung. Dann bin ich endlich weg von dem Drecksladen!”, erzählte er gerade.
„Das ist ja nicht auszuhalten! Er verdient doch gut. Die Kollegen sind alle sehr nett. Er ist doch das eigentliche Problem!“ dachte Kathrin. Wie konnte ein Mensch so sprechen?
Endlich kamen sie an die Stelle. Vor kurzem hatten sie, nachdem sie die letzte kleine Ortschaft passiert hatten, einen Wald betreten.
„Zweihundert Meter weiter“, hatte die Dame, mit der sie sich bei ihrer letzten Rheinsteig-Tour zufällig unterhalten hatte, gesagt, „verlassen sie den Weg und laufen ein Stück durch den Wald und dann über eine Wiese.“
„Wir sollen durch den Wald laufen?“, fragte Peter genervt.
Kathrin zwang sich ein Lächeln auf und antwortete: „Dafür werden wir mit dem schönsten Ausblick über das ganze Rheintal belohnt.“
Als sie den kurzen Waldabschnitt passiert hatten, traten sie auf die Wiese hinaus und Kathrin sah sofort, dass sie sich auf dem Hügelkamm befanden. Ein paar Meter weiter sah sie den Felsen, der sich wie eine Hundeschnauze in das Tal hineinstreckte. Der Anblick von hier oben war wirklich atemberaubend. Gerade ging die Sonne unter und tauchte den Rhein, der sich in Kurven durch das Tal schlängelte, in ein rotgoldenes Licht.
Im Gegensatz zu den Aussichtspunkten, die direkt am Rheinsteig lagen, wie zum Beispiel dem berühmten Loreleyfelsen, war diese Stelle nicht durch einen Zaun oder ein Gitter gesichert.
Kein Mensch käme hierher, hatte ihr die Frau vorgeschwärmt; wenn man dorthin ginge, habe man auf jeden Fall seine Ruhe, selbst wenn der Wanderweg am Wochenende völlig überlaufen sei.
Kathrin war sofort von diesem Geheimtipp begeistert gewesen und nach längerem Nachdenken, war ihr noch eine ganz andere Idee gekommen.
„Lass uns wieder gehen“, motzte Peter hinter ihr. „Es wird schon dunkel und wir müssen doch die Bahn erwischen. Bis zur nächsten Stadt ist es sicher noch eine gute Stunde.“
„Komm doch hierher, Schatz“, sagte Kathrin in der süßesten Stimme, die sie zustande brachte und trat auf den Felsen hinaus. Unter ihr ging es steil nach unten. Sie trat einen Schritt zurück und Peter trat an den Rand.
„Siehst Du das da unten?“, fragte sie.
„Was denn?“
Peter trat noch einen weiteren Schritt an den Rand des Felsens heran, und beugte sich hinunter zu der Stelle, auf die ihr Finger zeigte.
Mehr war nicht nötig gewesen! Kathrin holte aus und versetzte ihm mit beiden Handflächen einen kräftigen Stoß in den Rücken. Beide gerieten ins Taumeln, doch bei Kathrin war es nur ein kurzer Moment. Peter hingegen hatte keine Chance, sein Gleichgewicht zu halten und stürzte kopfüber in den Abgrund. Er hatte nicht einmal Zeit, einen Schrei auszustoßen.
Kathrin hatte diesen Moment lange herbeigesehnt, den Moment ihrer Befreiung. Jetzt war sie aber wie paralysiert. Mit einem Mal wurde ihr die Tragweite ihrer Handlung bewusst. Was hatte sie getan? Sie hatte ein Menschenleben ausgelöscht. Und warum? Weil er unaufmerksam war, passiv und langweilig? Er hatte sie nie betrogen oder geschlagen. Eigentlich hatte er überhaupt nie etwas Schlimmes getan. Und war sie überhaupt besser gewesen? Sie mit ihrer ganzen Aggression und sinnloser Wut? Sie war doch das Problem gewesen und nicht er.
Diese Gedanken stürmten alle gleichzeitig auf sie ein und ein Schrei entrang sich ihrer Brust: „Peter!“
„Hier…“, klang plötzlich eine schwache Stimme aus dem Abgrund.
Erschrocken rannte Kathrin zu der Klippe, ging in die Knie und sah hinab. Dort saß Peter, etwa drei Meter unter ihr auf einem Felsvorsprung. Er blutete aus einer Platzwunde am Kopf, schien aber ansonsten unverletzt zu sein.
„Was ist passiert?“, fragte er mit zitternder Stimme. „Mein Kopf tut weh. Wie komme ich hierher?“
„Er lebt!“ jubelte Kathrin innerlich. „Und er erinnert sich nicht! Jetzt wird alles gut!“
„Du bist gestürzt.“, sagte sie laut. „Wie geht es dir?“
Peters Jammerattitüde war mit einem Mal verschwunden.
„Geht schon“, antwortete er. „Warte, ich komm hoch.“
Der träge unsportliche Peter kletterte plötzlich mit ungeahnter Behändigkeit den Felsen hoch, fand halt an einem kleinen Vorsprung und einer Wurzel und wenige Sekunden später konnte Kathrin oben seine Hand fassen und ihn hochziehen.
Hysterisch weinend fiel sie ihm in die Arme. „Ich hatte solche Angst um dich! Ich liebe dich!“ schrie sie unter Tränen. Sie hatte eine zweite Chance erhalten. Gott hatte ihr vergeben. Nie wieder würde sie sich über ihren Mann beklagen. Und wenn er auch ein bisschen langweilig war, was machte das schon? Es gab wirklich Schlimmeres. Vor allem würde sie sich nicht mehr über ihn aufregen.
Peter schien seltsam ungerührt als er sie eine Weile wortlos im Arm hielt. „Schon gut, schon gut.“ murmelte er dann. „Beruhige dich. Lass uns jetzt gehen.“
Kathrin erhob sich langsam. In diesem Moment traf sie ein Stoß, der ungleich härter war als der, den sie zuvor Peter versetzt hatte. Dieser Stoß war besser gezielt, so dass sie an dem Vorsprung vorbei unaufhaltsam in die Tiefe stürzte. Für einen letzten Gedanken blieb ihr kaum Zeit. Alles, was sie kurz vor dem tödlichen Aufschlag empfand war ein einziges großes Unverständnis.
„Schlampe“, murmelte Peter, als er den Weg zurücklief und sich auf einen entspannten Abend vor dem Fernseher freute.