Kafkas Frühlingsgefühle
Von vampirweihnacht am 2. Juni 2012 veröffentlichtDer Himmel lichtet sich langsam und Kafka beschließt, es doch noch zum Flohmarkt zu wagen. Dort will er sich ein Rad kaufen. Trollo hat ihn dazu überredet. Er sollte mal etwas mehr an die frische Luft gehen, sich mehr bewegen und aktiver werden, überhaupt mehr unter Leute gehen. Dabei hasst es Kafka, unter Leute zu sein. Er ist nun mal ein wenig zurückgezogen und verschroben.
Was Trollo in Wahrheit meint, ist vor allem die Sache mit den Frauen. Damit geht er ihm schon seit der Schulzeit auf den Geist, hat immer versucht, ihn dazu anzustacheln, mit Mädchen Kurzweil zu betreiben, wie man das in modernen Kreisen so schön sagt. Trollo ist darin selbst sehr gut.
Noch nerviger sind aber seine Versuche, ihn zum Mieten einer eigenen Wohnung zu überreden. Dabei lebt Kafka gerne bei seiner Mutter. Er kann sich auf dem gesamten Dachgeschoss ausbreiten, vom Nähzimmer einmal abgesehen. Seine Mutter ist Hobbyschneiderin. Alle seine Anzüge sind von ihr. Und seine Pullis, denn sie strickt auch.
Auf dem Flohmarkt kauft er das einzige Rad, das vernünftig aussieht. Er muss dafür hundert ausgeben. Auf dem Rückweg wird er vom Regen erwischt. Radeln kann wirklich strapaziös sein. Um nicht nass zu werden, stellt er sich bei ein paar Läden unter. Im Schaufenster sieht er das Cover einiger Bestseller, die er entweder kennt oder gar nicht erst zu lesen beginnen möchte. Wenn es um Literatur geht, kennt sich Kafka aus. Er gibt einen gar nicht so kleinen Teil seines monatlichen Geldes für Bücher aus. Durchschnittlich liest er sechseinhalb Stunden am Tag, das hat er sich mal ausgerechnet.
Was aber gerade sein Interesse weckt, sind die Tarotkarten im Fenster. Es ist nur ein kleines Deck, das aus 22 Karten besteht. Die Abbildungen erinnern ihn an einen Traum, den er mal hatte und an den er sich ausgerechnet jetzt erinnern kann. Er sperrt das Rad mit dem Schloss ab und geht in den Laden, um sich die Karten zu kaufen.
Wie es sich zeigt, ist es ein spezielles Liebestarot. Kafka mag die Liebe. Zumindest in der Literatur. Als er noch jünger war, hat er gerne Romane gelesen, in denen es um Musik, romantische Gefühle und ein ausschweifendes Leben ging. Die Protagonisten versuchten wie Rockstars zu leben, ohne welche sein zu müssen.
Persönlich konnte er trotz seiner bald vierzig Jahre über keinerlei Erfahrung mit der Liebe zurückblicken. Von der zweiminütigen Affäre auf einer Liege am nächtlichen Strand von Mallorca mal abgesehen. Da hatte ihn Trollo hineingetrieben, in den Urlaub wie in diese Frau, deren Namen er wieder vergessen hatte, wie fast das gesamte Erlebnis. Es war ein schrecklicher Urlaub in einem viel zu kleinen Zweibettzimmer. In dem Hotel konnte man nicht einmal in Ruhe lesen, vor lauter singenden Betrunkenen und abendlichem Kneipenlärm. Von Schlafen ganz zu schweigen.
Daheim angelangt legt er sich auf das Bett seines Schlafzimmers, wie immer, wenn er etwas aus einem Buchladen kauft. Warum nicht eine Liebestarotkarte ziehen, einfach zum Test? Er greift wie in der Anleitung beschrieben in den Kartenstapel und zieht mit der linken Hand. Es ist die Karte “Frühling”. In der Anleitung liest er, dass diese dem “Wagen” im normalen Tarot entspricht. Er schaut sich die Abbildung an und wird für wenige Sekunden in eine Zeit zurückgezogen, die anders war, in der es noch Hoffnung auf das Besondere im Leben gab.
Kafka weiß, was zu tun ist. Er geht in die Bibliothek und peilt all jene Bücher an, die er in seiner Jugend gelesen hat, in denen sich Romantik, Eitelkeiten und Rock n’ roll trafen. Er beginnt sie wieder zu lesen und zieht gelegentlich eine Karte dazwischen. Die Abbildungen sprechen zu ihm. Sie geben ihm Ratschläge, sie und die Bücher, die ihm den Weg zu etwas Neuem weisen. Er spürt, dass ein neues Kapitel beginnt. Ob er nun die Liebe und das Laster kennen lernen, oder sich früher oder später doch wie erwartet in etwas Obskurem verwandeln wird, kann Kafka jetzt noch nicht sagen. Erst einmal wird er diesen Frühlingsgefühlen oder was auch immer das ist folgen.