Der alte Mann und die Rolltreppe
Von kleineSchwester am 21. Juni 2010 veröffentlichtSeit ein paar Wochen wohne ich nun dort. Ein ruhiger Stadtteil in einer kleinen Großstadt, in der die Menschen wenig seltsam sind. Vorbei an einem Bettler mit Hund, einem Gemüsestand und einem in einem fort plappernden Fotoautomaten gehe ich jeden Tag zur Arbeit. Der Gegenwind in der Unterführung zur U-Bahn kann schon mal unangenehm sein, aber nicht seltsam.
Jeden Tag wenn ich auf die Rolltreppe zu gehe, kommt mir ein alter Mann entgegen. Ich habe keine bestimmten Zeiten, zu denen ich zur Arbeit gehe. Er kommt mir immer entgegen. In Gedanken versunken schlurft er die Treppen hoch, gesenkter Kopf mit schütterem Haar. Aber gleichmäßig ist sein Schritt und bestimmt. Jeden Morgen.
Jeden Morgen steht er auf. Lässt die Beine aus dem Bett baumeln und blinzelt dem feinen Sonnenstrahl entgegen, der durch die Vorhänge fällt. Seine Füße gleiten in die Filzpantoffeln, die er seit Jahren immer an der gleichen Stelle vor seinem Bett abstellt. Dass die rechte Seite seines Doppelbetts leer bleiben wird, ist ihm nicht bewusst. Ein Geräusch reißt ihn aus seinen Gedanken. Ein Schlüssel dreht sich im Schloss und die Haustür öffnet sich. Eine junge Frau kommt herein. Jeden Morgen. Er ist sich nicht ganz sicher, wer sie ist und zögert. Als sie aber bestimmt und selbstverständlich in seine Wohnung tritt, kann er dem nichts entgegen setzen. Ein wenig ängstlich schaut er sie an. Sie erklärt, ihm sie sei doch die Marie und käme jeden Morgen. Sie würden sich doch schon gut kennen. Er versucht sie zu umarmen, aber sie löst sich sofort aus seiner Umarmung und schiebt ihn ins Schlafzimmer. Als er auf der Bettkante sitzt, noch etwas irritiert, beginnt sie seinen Schlafanzug aufzuknöpfen. Sie hilft ihm vorsichtig aus dem Oberteil und hält ihn fest, als er mit zittrigen Knien versucht sich die Hose auszuziehen. Hinter den Vorhängen verbirgt sich immer noch der neue Tag. Im Sonnenstrahl, der hindurch fällt tummeln sich die Staubpartikel und glitzern wie kleine Sterne. Als sie fertig sind und er in der feinen Bundfaltenhose und dem guten Hemd sich auf den Weg in die Küche macht, ist sie schon dort und gießt heißes Wasser auf das Kaffeepulver. Ein angenehm er Duft nach Sonntagsfrühstück macht sich breit und lässt in ihm ein wohliges Gefühl aufkommen. Gedanken an seine Frau kommen auf. Wie die Zwei geheiratet haben und in bescheidenen Verhältnissen zusammen mit der Familie und Freunden ein Fest gefeiert. Damals in ihrem Wohnzimmer in der kleinen Wohnung an Ende der Stadt. Es gab Erdbeerkuchen mit den eigenen Erdbeeren aus dem Garten seiner Mutter und seit Tagen hatten sie keinen Kaffee mehr getrunken, um genügend Kaffeepulver für ihre Hochzeitsgäste zu haben.
Sanft streicht die junge Frau ihm über den Arm und fragt ihn, ob er lieber Marmelade oder Käse auf sein Brötchen möchte. Er kann sich nicht entscheiden und möchte einfach nur Butter. Langsam kaut er und schaut die junge Frau immer wieder verwundert aus den Augenwinkeln an. Gut sieht sie aus, aber noch so jung. Könnte seine Enkelin sein. Warum isst sie nur nicht mit? Die jungen Dinger sind aber auch immer auf Diät. Sie greift nach seiner Hand. Warm ist ihre und ganz zart. Sie öffnet seine faltige Hand und lässt drei Pillen hinein fallen. Was das nun wieder soll? Fragend schaut er sie an und sie sagt, die hat der Doktor verschrieben. Warum? Er sei doch nicht krank. Aber fürs Herz und die Durchblutung hat der Doktor gesagt. Jeden Tag führt sie diese Diskussion mit ihm. Mit plötzlicher Kraft schmeißt er die Tabletten zu Boden und schaut sie wütend an. Mit seinem Herzen sei alles in Ordnung. Sie wolle ihn vergiften. Wer sei sie überhaupt, dass sie sich hier so aufführt. Die junge Frau atmet tief durch. Er benötige diese Medikamente dringend und hier, wenn er wolle, könne er das Rezept von Dr. Clemens sehen. Sie hält ihm eine Liste unter die Nase, auf der für jeden Tag zu sehen ist, welche Medikamente er genommen hat. Mit einem dicken Haken dahinter. Gestern, vorgestern und die Tage davor. Jeden Tag. Sie bückt sich und sammelt geduldig die Tabletten vom Boden auf und reicht sie ihm. Sein Widerstand scheint gebrochen. Gedankenverloren schaut er durch sie hindurch und schluckt die Medizin.
Jetzt würde er gerne seine Runde drehen, sagt er und geht in Richtung Flur, wo seine Schuhe und seine Jacke am Haken hängen. Die junge Frau hilft ihm in die Jacke und bindet ihm die Schuhe. Seine knochigen Finger kommen mit dem Binden der Schleife nicht mehr zu recht. Gemeinsam verlassen sie die Wohnung. Sie fragt, ob er den Schlüssel habe und seinen Geldbeutel mit seinem Ausweis. Dann steigen sie gemeinsam in ihren Kleinwagen. Sie muss sich beeilen. In zehn Minuten muss sie beim nächsten Patienten sein und ihm helfen, seinen Tag zu beginnen. Nach kurzer Fahrt stoppt sie und lässt ihren Beifahrer zur Tür hinaus. „Passen Sie auf sich auf. Ich komme morgen Früh wieder. Wie jeden Tag.“ Er nickt und lässt die Tür zu fallen. Er weiß genau, wo er hin möchte. Er muss gar nicht mehr viel darüber nachdenken. Vorbei am Bettler mit dem Hund, dem Gemüsestand und dem plappernden Fotoautomaten geht er zum U-Bahnstation und direkt zur Rolltreppe. Erfährt sie runter und ihm fällt ein, dass er seine Fahrkarte nicht gestempelt hat. Er geht die Treppe wieder hoch, in diese Richtung gibt es keine Rolltreppe, er muss gehen, aber wie von einer unsichtbaren Hand gezogen, geht er gleichmäßig und mit festem Schritt nach oben. Oben angekommen, wundert er sich, er wollte doch mit der U-Bahn ins Krankenhaus zu seiner Frau fahren. Er fährt wieder abwärts und bemerkt, er hat seinen Fahrschein vergessen zu stempeln. Die U-Bahn fährt ein. Seine Frau wird sich schon wundern, wo er bleibt. Aber es nützt nichts, er muss seinen Fahrschein stempeln. Also geht er wieder hoch. Warum er in die falsche Richtung gegangen ist, kann er sich nicht erklären. Nun aber schnell wieder runter, die nächste U-Bahn kommt gleich.
Nach ein paar Wochen habe ich mich auf die Bank in der U-Bahnstation gesetzt und ihm zu geschaut. Eine Stunde lang ging er auf und ab, ganz regelmäßig, nur unterbrochen von einem kurzen Wundern. Das hat er vergessen. Wie jeden Tag. Auf und Ab. Jeden Tag. Auf und Ab. Diesen Tag vergessen.